Kohlhaas – Moral High Ground (UA)
von Follow the Rabbit nach Heinrich von Kleist
für Menschen ab 14 Jahren
»Niemand über mir
(außer Gott)«
»STELLA*22-Darstellender.Kunst.Preis für junges Publikum«
Nominierung in der Kategorie „Herausragende Produktion für Jugendliche“
Held oder Terrorist?
Michael Kohlhaas, erfolgreicher Unternehmer, gebildet, gerecht, hoch anerkannt, glücklich verheiratet, liebevoller Vater dreier Kinder, kurz: ein deutscher Bilderbuchbürger.
Michael Kohlhaas, Rebell, Terrorist, Amokläufer, der brandschatzt, exekutiert, der ganze Städte niederbrennt, um durchzusetzen, was er als wahre Gerechtigkeit ansieht.
Weil ein Landadeliger zwei seiner Pferde schlecht behandelt hat und Kohlhaas nicht dafür Recht bekommt, beginnt er einen Feldzug, dem sich immer mehr Menschen anschließen – und dem zahlreiche Unschuldige zum Opfer fallen.
Wenn ein Mensch den Glauben an das System verliert, in dem er lebt, ist die Loslösung vom moralischen Kanon nicht weit. So kann aus Politikverdrossenheit Verfassungsfeindlichkeit werden. Und doch: Sobald in der Welt Staatssysteme umgestürzt werden, die sich stark von unserem unterscheiden, heißen wir das gut, legitimieren wir die dafür „nötige“ Gewalt – auch wenn wir sie noch so bedauern.
„Kohlhaas – Moral High Ground“ versucht – neben dem Nacherzählen der Geschichte – Kohlhaas ohnmächtige Wut fühlbar zu machen, seinen Schmerz, seine Brutalität, seinen Abfall vom Glauben an das System.
Jonas Werling erzählt Kleists 1808 verfasste Novelle nach und zieht Parallelen zum Jetzt: dem Misstrauen in den Staat, in die demokratische Grundordnung, dem Gefühl, in Wirklichkeit verarscht zu werden von „denen da oben“, dem diffusen Zweifel am Wahrheitsgehalt des Status quo.
Radikalisierung ist kein Schalter, der umgelegt wird, sondern ein gradueller Prozess. Kleists Rezeptur, die einen redlichen Bürger in einen Extremisten verwandelt, ist zeitlos gültig.
Alles eine Frage der Perspektive
Im deutschen Kaiserreich wurde Kleists Kohlhaas als preußischer Held gefeiert, der die typische deutsche Kämpfernatur und Unbeugsamkeit zeige. In der Weimarer Republik begriff ihn die Linke als einen Vorläufer der proletarischen Arbeiterbewegung. Im Nationalsozialismus sah man ihn als die Verkörperung des germanischen Rechtsgefühls. Anfang der 1970er-Jahre bezeichnete ihn der Autor Günter Bartsch als „Prototyp des deutschen Anarchisten“, und mit seinem Widerstand gegen die Staatsgewalt wurde Kohlhaas nun auch im Kontext der Handlungen der Roten Armee Fraktion (RAF) gelesen.
Und genau das zeichnet Kleists Novelle aus: Detailliert wird eine Radikalisierung beschrieben, ohne Stellung zu beziehen, ohne zu werten.
Die Produktion richtet sich an Menschen, deren Ehre wichtiger ist als ihr Leben, denen das Schicksal übel mitgespielt hat, die ausgespuckt worden sind, deren Stolz unter Beschuss steht, die nichts mehr zu verlieren haben.
Vorstellung am 24. Juni ’22
im Grazer Schauspielhaus (Haus 2)
im Rahmen von spleen*graz.
Hier gibt’s Karten!
Dauer ca. 75 Minuten
Mit Jonas Werling
Regie: Nadja und Martin Brachvogel
Produktionsleitung: Sylvia Münzer und Natalie Pinter
Dramaturgie: Victoria Fux
Musik: Jonas Werling
Projektionen: Martin Brachvogel
Outside Eyes: Verena Kiegerl, Monika Klengel, Robert Lepenik, Gudrun Maier, Sylvia Münzer, Marcus Streibl-Harms
Eine Produktion von Follow the Rabbit, in Koproduktion mit Brachvogel & Werling GbR und in Zusammenarbeit mit dem WUK – Kinderkultur.
Pressestimmen
»Wutbürger in Aktion
Gerade mal 13 Augenpaare verfolgten am Freitag im TAW die Gewaltspirale eines modernen Michael Kohlhaas. Gestrichen wurde die Aufführung am Samstag, weil keine einzige Karte verkauft wurde. Dabei war das junge politische Theater ein packender Stoff, wenn auch alles andere als leichte Kost.
„Verstörend und genial.“ So lautete der spontane Kommentar einer jungen Lehramtsstudentin aus Mutterstadt nach dem Einmannstück „Kohlhaas – Moral High Ground“ im Theater Alte Werkstatt (TAW). Ihren zukünftigen Schülern würde sie dieses Stück gerne zeigen. Weil Literaturklassiker alles andere sind als dröge, wenn sie ins Hier und Jetzt geholt werden. Und weil Heinrich von Kleists Novelle „Kohlhaas“ in dieser Inszenierung von bängstigender Aktualität ist – mit der zeitlosen Frage, was hinter der Radikalisierung vom kleinen Mann steckt, der durch persönlich erfahrenes Unrecht zum Terror verbreitenden Amokläufer wird.
Held oder Terrorist?
Eine Leinwand bildet das sparsame Bühnenbild. Rechts oben in der Ecke läuft eine digitale Stoppuhr. Als Jonas Werling die Bühne betritt, steht sie bei Null. Als er sie verlässt, hält sie bei 812. So viele Menschen sind in dem Stück gestorben, in dem blutigen Rachefeldzug eines Menschen. Nahe liegt die Assoziation zum jüngsten Amoklauf an einer Grundschule in Texas, zu den Polizistenmorden in Kusel, den Tankstellenmord eines Corona-Gegners in Idar-Oberstein. Die Geschichte, die erzählt wird, lebt ebenso vom Gesagten wie vom Ungesagten, hält sich mit Wertungen bewusst zurück. Und zwingt so zum Nachdenken über den „Moral High Ground“, die moralische Selbstgefälligkeit Einzelner, die zu Selbstjustiz greifen. Die den Glauben an das Rechtssystem verloren haben. Zuletzt betrat Werling im März die TAW-Bühne als zorniger österreichischer Student Rudi in der Komödie „Plötzlich Pfälzer“. Jetzt hat der 28- jährige Landauer von der Theatergruppe Brachvogel & Werling auch Wut im Bauch, aber dieses Mal ist die Wut existenziell und zerstörerisch. Er ist der Berichterstatter der authentischen Geschichte des Kohlhaas, des Pferdehändlers aus dem 16. Jahrhundert, der wegen Beamtenwillkür zum Massenmörder wurde.
Stoppuhr zeigt die Toten an
Den aktuellen Bezug stellen die Regisseure Nadja und Martin Brachvogel durch geschickte Einfälle her: Ihr Kohlhaas mixt die Sprache Kleists mit heutigem Jugendslang. Die auf die Leinwand projizierten Texte geben die Geschichte stichpunktartig wieder, manchmal mit dem Vokabular aus Comics, gelegentlich blitzen scheinbar willkürliche Textfetzen auf – die Definition von Wut aus dem Wörterbuch, die Frage nach männlicher Aggression, eine Studie zur hohen Gewaltbereitschaft amerikanischer Studenten. Und es werden Videosequenzen realer Vorfälle aus sozialen Netzwerken eingeblendet, die unter den Zuschauern ungläubiges, irritiertes Lachen hervorrufen: Ein gepanzerter Bulldozer verwüstet eine Kleinstadt in Colorado. Ein frustrierter Kunde zertrümmert im französischen Dijon Handys. Ein Baggerfahrer, der in London Reihenhäuser demoliert. Werling wechselt häufig vom sachlich agierenden Erzähler zur IchForm. Dann hat der Wutbürger das Sagen, der Schmerz des Michael Kohlhaas quillt mit ungebremster Energie heraus, die Sprache wird zur Waffe und beschreibt nur schwer erträglich brutal verkohlte Menschen in verbrannten Gemäuern, Folter, das Zerstückeln von Körpern. Wirksam untermalt der in weiten Teilen improvisierende Schauspieler dies durch sein Spiel auf der E-Gitarre, mit aggressiven Klängen des Death Metal und kehlig geschrienen Songs mit Zeilen wie „In mir platzt der Wut-Abszess, kill doch mal und vergiss die Sorgen“. Zurück zur Stoppuhr – dem beklemmenden Zählwerk, das im Stück mechanisch die steigende Anzahl der Opfer dokumentiert: Als sie die Eins anzeigt, ist Kohlhaas’ Frau gestorben. Elisabeth war auf dem Weg zum Kurfürsten verunglückt. Bei ihm hatte sie gehofft, Recht zu bekommen für ihren Mann Michael, der vom Junker Wenzel von Tronka ungerecht behandelt worden ist und Rache geschworen hat. Auf ihrem Totenbett flüstert sie noch: „Vergib deinen Feinden.“ Doch umsonst: Nun sammelt Kohlhaas seine Knechte und äschert Tronkas Burg ein: zwölf Tote, aber den Junker bekommt er nicht zu fassen. „Niemand über mir außer Gott, bin mein eigener Meister“, ruft er und überfällt Wittenberg, wo er Tronka vermutet: 68 Tote. Kohlhaas verfolgt den Junker durch Brandenburg und Sachsen, die Stoppuhr wird dreistellig und hält bei 811. Auf die Zahl 812 klickt sie zum Ende der Inszenierung – Kohlhaas wird gefasst und auf dem Schafott enthauptet. Aus dem Off erklingt eine unbeteiligt wirkende Stimme, die in Endlosschleife fragt: „Held oder Terrorist?“ Das in Österreich für einen Jugendtheaterpreis nominierte Stück entlässt die Zuschauer nachdenklich und bedrückt.«
Klaudia Toussaint, Die Rheinpfalz, 30. Mai 2022
»Schluss mit lustig
Ein psychologischer Schmetterlingseffekt, der einen Flächenbrand auslöst. Ein kleines Unrecht, das einen braven Mann zum Wutbürger werden lässt. Das ist Kern eines mutigen Jugendstücks am Freitag im TAW: „Kohlhaas – Moral High Ground“.
Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“ zum Lehrplan. Sie erzählt die wahre Geschichte des Kaufmanns Hans Kohlhase, der im 16. Jahrhundert lebte. Als ihm ein Junker seine angeblich gestohlenen Pferde wegnimmt, wird der Kaufmann zum Verbrecher und brandschatzt in Wittenberg. In der Novelle ist es der Pferdehändler Michael Kohlhaas, der aufgrund von Justizwillkür zur Selbstjustiz greift, in Sachsen und Brandenburg mordet und Städte anzündet. Moral High Ground bedeutet moralische Überlegenheit und Selbstgefälligkeit – die Novelle von 1808 wird in die Gegenwart versetzt. Ein moderner Antiheld Kohlhaas mutiert vom braven Bürger zumWutbürger, wie es sie in den Reihen der Coronagegner, Pegida, RAF und der Terrorgruppe Islamischer Staat geben könnte.
Der zündende Funke fehlte
Interessant ist die Entstehungsgeschichte der modernen Inszenierung: Vor zwei Jahren gründeten Nadja und Martin Brachvogel in Impflingen bei Landau gemeinsam mit Jonas Werling die freie Theatergruppe Brachvogel & Werling. Die Brachvogels hatten die Idee, Kleists Novelle auf die Bühne zu bringen, es fehlte aber der zündende Funke. Der kam durch Werling, der in seiner Freizeit auf der E-Gitarre Death Metal spielt, ein Metal-Genre der aggressiveren Art. Damit war der perfekte musikalische Ausdruck gefunden. Ein psychologischer Schmetterlingseffekt, der einen Flächenbrand auslöst. Ein kleines Unrecht, das einen braven Mann zum Wutbürger werden lässt. Das ist Kern eines mutigen Jugendstücks am Freitag im TAW: „Kohlhaas – Moral High Ground“. Die drei Theaterleute schrieben gemeinsam ihre Version des Kohlhaas, als performativen Monolog – ein experimentelles Einmannstück, in dem Werling das Schicksal des Pferdehändlers in der Ich-Form erzählt, mit Versatzstücken von Kleist und moderner Umgangs- und Jugendsprache. Dabei spielt er E-Gitarre, auf der Leinwand laufen Videoszenen aus sozialen Netzwerken, in denen selbsternannte Rächer unterwegs sind. Zum Beispiel sieht man einen britischen Bauarbeiter, der eine Baustelle zerstört, weil er keinen Lohn bekam. Das Stück ist die beklemmende Dokumentation einer Radikalisierung und ergreift keine Partei. „Das Thema ist hochaktuell, kompliziert und beängstigend“, sagt Werling im Gespräch mit der RHEINPFALZ. „Kohlhaas vergisst jede Form von Verhältnismäßigkeit. Nur noch seine eigene Rechtfertigung zählt, die Maßstäbe der Gesellschaft verschwinden, die Regierung und ihre Anhänger sind die Bösen.“ Im Zuge der Recherchen haben sich die Künstler Reportagen angeschaut, in denen sich junge Deutsche der Terrormiliz Islamischer Staat angeschlossen haben. Für den 28-jährigen Schauspieler, der an der Theaterakademie Mannheim studiert hat, sind diese Lebenswege beispielhaft für die Figur im Stück, die bereit ist, für ihre Überzeugungen bis zum Letzten zu gehen. Mit dem Solostück möchte Werling junges Publikum für Theater interessieren. Der Schauspieler, der vor zwei Jahren Mitbegründer des Mannheimer Theatervereins Pandora war, meint, „dass junge Erwachsene hauptsächlich insKino, auf Partys und Konzerte gehen. Theater ist für sie eher ein alte Leute-Ding.“
Für Theaterpreis nominiert
„Kohlhaas – Moral High Ground“ ist eine Inszenierung, die in der deutschsprachigen Theaterlandschaft bereits auf sich aufmerksam gemacht hat. Das Stück, das wegen seiner gewalttätigen Sprache erst ab 14 Jahre geeignet ist, wurde in Österreich für den Stella-Preis in der Kategorie „Herausragende Produktion für Jugendliche“ nominiert, die Preisvergabe istim Oktober in Wien. Den Preis vergibt jährlich die ASSITEJ Austria, das österreichische Mitglied des Weltverbandes International Association of Theatre for Children and Young People. Dieser fördert Theaterproduktionen für Kinder und Jugendliche. Schon 2018 erhielten die Brachvogels und Werling den Stella-Preis als beste österreichische Jugendtheaterproduktion für „Mongos“ von Sergej Gößner – ein Stück über zwei schwer erkrankte Jugendliche in einer RehaKlinik. Da Nadja und Martin Brachvogel die Theatergruppe Follow The Rabbit Graz leiten, ist das Stück „Kohlhaas“ eine Koproduktion dieses Ensembles und der neu gegründeten freien Theatergruppe aus Impflingen.«
Klaudia Toussaint, Die Rheinpfalz, 25. Mai 2022
»Unaufgeregtes Spiel mit der Wut
Den Prozess der Radikalisierung erzählt Heinrich von Kleist in seiner Novelle “Michael Kohlhaas”. Die Grazer Gruppe Follow The Rabbit nutzt den historischen Stoff für ein Bühnensolo, in dem sie den Weg vom Funken der Erregung bis zur Eskalation der Gewalt als unaufgeregtes Spiel nacherzählt.
Das wichtigste Werkzeug eines Schauspielers ist es seine Gefühle bewusst steuern zu können. Somit ist Jonas Werling, der hier auf der Bühne steht, das Gegenteil seiner Figur, die im Angesicht der Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren ist, eskaliert und ganze Dörfer niederbrennt, um ein Gefühl der Gerechtigkeit zu spüren. Diese Geschichte der Radikalisierung inszenieren Nadja und Martin Brachvogel von Follow The Rabbit als offensichtliches Spiel. Sie lassen Werling die Geschichte kühl und sachlich nacherzählen. Wenn er Wut zeigen soll, tut er es mit den Mitteln der Heavy Metal Musik – eine Nummer lang Wut und dann ist wieder gut. Zudem wird auf eine Leinwand hinter ihm das Geschehen kommentiert und es sind zeitgenössischen Kohlhaas-Doppelgängern zu sehen, deren Wuteskalaktionen in Videos auf Social Media Kanälen dokumentiert worden. Humorvoll und unaufgeregt benutzt diese Produktion einen Klassiker, um damit die Wut als ein Gefühl der Gegenwart zu erkunden. Zu sehen bis 19.November.«
Dominik Hartner, Kronen Zeitung, 12.November 2021